Arbeitsgericht Passau zu MCS

Arbeitsgericht Passau zu MCS

Beitragvon Konstantin » Sonntag 30. April 2006, 15:16

Arbeitsgericht zur Chemikalienunverträglichkeit:

Im nachfolgenden Arbeitsgerichtsverfahren ging es um eine Entschädigungsforderung der Klägerin. Die Entschädigung wurde der Klägerin vom Arbeitsgericht nicht zugesprochen, andererseits hat aber das Arbeitsgericht die Chemikalienunverträglichkeit der Klägerin ausführlich im nachstehenden Text begründet.

(.........) Somit kann davon ausgegangen werden, daß bei der Klägerin des medizinische Krankheitsbild einer Chemikalienunverträglichkeit vorliegt. Dieser Begriff, der im medizinischen Sinne noch nicht hinreichend wissenschaftlich erörtert ist, bezeichnet alle relativ selten auftretenden Krankheitsfälle, die mit Multiple-Chemical-Sensitivity (MCS) in Zusammenhang stehen. Nach derzeitigem medizinischem Verständnis ist MCS eine mögliche gemeinsame Endstrecke unterschiedlicher, von durch Vergiftungen von Außen angestoßener Krankheitsprozesse, wie Immun-Provokationen, neurogener Entzündungen, Sensibilisierung bestimmter Bahnen und psychosozialer Belastungen. Das medizinisch problematische an diesem Krankheitsbild ist, daß es nach derzeitigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht hundertprozentig diagnostizierter ist, sondern lediglich die gesundheitlichen Sekundärfolgen, mithin die eingetretenen Erkrankungen, hinreichend diagnostiziert werden können, allerdings nicht die konkrete Grundursache der Chemikalienunverträglichkeit. Auch ist der genaue Bezug zwischen den Einflüssen der verwendeten Chemikalien, die konkret (Arbeitsstelle) einerseits und der psychosozialen Belastungen andererseits, ungeklärt. Soweit es sich nicht um einen allergischen Krankheitszustand handelt, was bei der Klägerin auszuschließen ist, ist beim hypersensiblen Zustand der Chemikalienunverträglichkeit vermutlich davon auszugehen, daß durch eine einmalige oder mehrmalige hohe Dosis oder eine langdauernde einwirkende Niedrigdosis der Initialisierungssubstanzen ausgelöst wird. Die herkömmliche Argumentation der Toxikologie geht von einem Uniformitätsmythos aus, der relativ gleichförmig die Reaktionen auf Schadstoffe bei allen Menschen unterstellt, zumindest bei allen Personen, die durchschnittlich gesund sind und dem gleichen Altersbereich angehören. Diese Reaktionen ließen sich in medizinischer Hinsicht auch mit dem Mittelwert der Einzelreaktionen abbilden, ohne daß eine Berücksichtigung von einzelnen Varianten notwendig wäre. Die derzeitige medizinische Erkenntnis geht davon aus, daß diese Argumentation als überholt anzusehen ist, allerdings besteht die Problematik, daß die auslösende Symptomatik der Chemikalienunverträglichkeit allein mit den Methoden der derzeitigen Toxikologie nicht erklärbar ist (vgl. hierzu Maschewsky, Handbuch der Chemikalienunverträglichkeit). Die Chemikalienunverträglichkeit im medizinischen Sinne wird nach neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis dahingehend präzisiert, daß sie bei bestimmten Personen, regelmäßig einer sehr geringen prozentualen Quote der Bevölkerung, nach einer Sensibilisierungsphase zu mehr oder weniger eindeutig zu diagnostizierenden Gesundheitsstörungen führt, die durch kleine Mengen toxischer Substanzen ausgelöst werden. In erster Linie kommen hierbei die herkömmlich verwendeten Desinfektionsmittel, aber auch Putzmittel in Betracht. Hinsichtlich weiterer Mittel, die möglicherweise im privaten Bereich verwendet werden, wirken sich insofern Lösungsmittel, Holzschutzmittel, Pestizide und dergleichen Substanzen negativ aus. Die Symptome können in mehreren körperlichen Organen auftreten und unterschiedlich schwer sein, die mildernde Form sind Befindlichkeitsstörungen, die ein Weiter-arbeiten noch erlauben, die schlimmsten Folgen führen zu irreparablen gesund-heitlichen Störungen und Beeinträchtigungen. Das in gesundheitlicher Hinsicht Proble-matische an der Entwicklung der Chemikalienunverträglichkeit ist, daß aus einer zunächst leichten Störung sich eine schwere entwickeln kann, wenn der Prozeß nicht rechtzeitig abgebremst wird. Mit dem Schweregrad nimmt auch die Irreversibilität zu. Aufgrund der von der Klägerin vorgetragenen und durch ärztliche Bestätigungen belegten Krankheitsbilder kann davon ausgegangen werden, daß zumindest einige der Krankheitssymptome der Klägerin sich als irreparabel und somit als schwere gesundheitliche Störung darstellen.
(........) Seitens des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin sowie des Umweltbundesamtes wurde zu erkennen gegeben, daß keine Einwendungen mehr gegen die Anerkennung als Schwerbehinderung bestehen, wenn die Erscheinungsformen der Chemikalienunverträglichkeit sich derart äußern, daß die sonstigen Voraussetzungen der Anerkennung im Schwerbehindertenrecht gegeben sind.
(............) daß sich auch innerhalb des betroffenen Kreises (... Arbeitsstelle) Personen befinden, die an Chemikalienunverträglichkeit leiden und es somit zu erheblichen, schlimmstenfalls irreparablen gesundheitlichen Störungen kommen werde. Zum damaligen Zeitpunkt (während der Arbeit, Anmerkung) war allerdings das Krankheitsbild der Chemikalienunverträglichkeit nahezu gänzlich unbekannt, wenn überhaupt derartige Symptome auftraten, versuchte man, sie mit herkömmlichen Krankheitsbildern zu beschreiben oder ging von evtl. psychosomatischen Störungen aus.

Geschäftszeichen: 1 Ca 1465/96, Arbeitsgericht Passau, verkündet am 18.05.1999

Quelle:
http://www.hennek-homepage.de/selbsthilfeinitiative/wohng3.htm
Konstantin
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