In Deutschland ist Recht nicht gleich Gerechtigkei
Die Prozesse um Jörg Kachelmann, Pädophile und entlassene Supermarktangestellte zeigen: Die Deutschen sind mit ihrer Rechtsprechung unzufrieden.
Ein Kindesentführer wird beim Verhör hart rangenommen, die Polizei will das Versteck des Bankierssohnes herauszwingen. Ein Gericht bestraft die Beamten später. Jetzt verlangt der Mörder Magnus Gäfgen Schmerzensgeld: Die Folterandrohung habe ihn traumatisiert. Am 17. März tagt in Frankfurt das Gericht. Wie würden Sie entscheiden?
Eine Kassiererin unterschlägt Pfandbons für 1,30 Euro und wird gekündigt. Das Landesarbeitsgericht hält das für rechtens, das Vertrauensverhältnis sei zerstört. Das Bundesarbeitsgericht hebt das Urteil auf: nur eine Pflichtwidrigkeit, eine Abmahnung genüge. Wie hätten Sie geurteilt?
Ein Zwei-Meter-Hüne tritt an der Hamburger U-Bahn zwei Störenfrieden entgegen, die seine Freundin belästigen. Die zwei schlagen den Mann aufs Kinn, er kippt um, schlägt auf den Hinterkopf und ist für immer behindert. Die geflohenen Täter erhalten eine Geldstrafe – wegen unterlassener Hilfeleistung. Sie hätten in Notwehr zugeschlagen, so die Richterin: Der Mann habe sie mit seiner Größe eingeschüchtert. Eine gerechte Entscheidung?
Nicht einmal ein Jahr Haft pro Menschenleben
Urteile aus deutschen Gerichtssälen machen die Öffentlichkeit immer häufiger fassungslos. Besonders bei Prozessen, wo es um Pädophile oder fahrlässige Tötung geht, klafft oft eine Lücke zur „gefühlten Gerechtigkeit“. Dass der „Raser von Rügen“ nur 39 Monate in Haft kam, nachdem er betrunken und bekokst vier junge Menschen getötet hatte, empörte viele maßlos. Nicht mal ein Jahr pro Menschenleben, klagte eine erbitterte Mutter, und aus zahllosen Internetforen kam Zustimmung.
Dass unser Rechtsystem nicht derart aufrechnet, ist gut und wichtig. Urteile müssen streng formalistischen Kriterien genügen. Der Berliner Jurist Ferdinand von Schirach, dessen Storys aus dem Gerichtssaal Bestseller wurden, formuliert es kühl: Ein Strafverfahren ist keine Therapiestunde und kein Kirchgang. Es geht nicht um Befindlichkeiten oder theologische Schuld, sondern um Beweise.
Doch bei dem wachsenden Unmut auf die Justiz spielen Vergleiche sehr wohl eine Rolle. Jörg Kachelmann soll wegen einer angeblichen Vergewaltigung bis zu 15 Jahre in Haft, während ein Pädophiler in Dorsten für mehrfachen Kindesmissbrauch zwei Jahre Bewährung bekommt? Pfandbondiebin „Emmely“ verliert den Job, während Banker ungestraft Milliardensummen verspielen? Sogar Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) nannte das Urteil deshalb „barbarisch“. Die Richter verbaten sich die Diffamierung zwar, doch der Ton gegenüber der Justiz verschärft sich.
Fernsehrichterin Barbara Salesch wird als gerechter empfunden
Das Handeln der früher so angesehenen Gerichte ist in unserer Mediengesellschaft zugänglicher geworden, gleichsam enthüllt; die Öffentlichkeit fühlt sich besser informiert und reagiert aufgeputschter als je zuvor. Ob Emmely oder Dominik Brunner, ob Winnenden oder Kachelmann: Die Justiz wird als unfair beschimpft, als wahlweise zu lasch oder vom Jagdinstinkt getrieben, als voreingenommen, eitel und korrupt.
Das alles passt trefflich zur Stimmungslage des Wutbürgers, der sich der Obrigkeit hilflos ausgeliefert fühlt. Gerichtsshows wie „Barbara Salesch“ schaffen zudem einen verzerrten Eindruck davon, wie anständige Juristen zu handeln hätten. „Richterin Saleschs Urteile sind ganz im Gegensatz zur Justiz gerecht, und ihre Begründungen sind logisch und allgemein verständlich“, schrieb einmal ein Leser an seine Zeitung. „Sie zeigt eine Justiz, wie sie sein sollte, nicht, wie sie ist.“ Der Glauben daran, dass in Gerichtssälen wenigstens Fairness garantiert ist, wenn schon nicht Wahrheit, gerät ins Wanken. Das ist gefährlich. Auf dem Spiel steht das Vertrauen in unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat.
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit findet sich in allen Epochen und Kulturen. Die Wissenschaft glaubt gar, dass sie tief in unserer Natur verankert ist. Wer seinen Chef für gerecht hält, soll ein geringeres Risiko für Herzkrankheiten haben. Der englische Philosoph John Stuart Mill räsonierte schon Mitte des 19. Jahrhunderts über das seltsame Bedürfnis, diejenigen bestraft zu sehen, die unser Gefühl von Gerechtigkeit verletzen, auch wenn wir gar nicht Opfer dieser Ungerechtigkeit sind. Mill folgerte: Wir verabscheuen Ungerechtigkeit, die uns nicht betrifft, weil es in unserem persönlichen Interesse liegt, dass die Gemeinschaft, in der wir leben, intakt ist.
Mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit der Wahrheit
Was Wunder also, wenn Bürger von der Justiz erwarten, dass Angeklagte „angemessen“ bestraft werden. Doch ein alle befriedigendes Urteil ist oft unmöglich, wie gerade der Winnenden-Prozess zeigte. Die Strafe für Tim K.'s Vater konnte niemals im Verhältnis zu den Wunden stehen, die die Tat bei vielen Familien gerissen hat. Genau das aber hatten die Angehörigen erhofft und wurden enttäuscht. Andere hielten zugleich für unfair, dass der Mann für seinen Sohn mitbüßen soll.
Mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit der Wahrheit: Jeder versteht etwas anderes darunter, jeder hat seine Perspektive. Selbst penibel geführte Strafprozesse können nur Annäherungen liefern. Gerade wenn, wie im Fall Kachelmann, Aussage gegen Aussage steht, ist das Risiko des Fehlurteils unvermeidlich. Richter sind keine Automaten, Beweiswürdigung ist keine mathematisch korrekte Wissenschaft. Die Causa Kachelmann liefert auch dafür Anschauungsmaterial: Das Landgericht Mannheim sah „dringenden Tatverdacht“ und steckte den Schweizer in U-Haft, das Oberlandesgericht Karlsruhe bewertete dieselben Beweise anders und ließ ihn frei.
Dass Gerichte unterschiedlich bewerten, heißt noch nicht, dass Verdächtige der Willkür ausgeliefert sind. Beklagte können sich im Zeugenstand rechtfertigen, oder sie lassen ihre Verteidiger für sich kämpfen bis hin zur möglichen Revision. Dafür muss jedes legale Mittel recht sein, ohne dass die Anwälte in der Öffentlichkeit für ihr Auftreten ausgebuht werden. Das Kräftemessen vor der Richterbank ist das wesentlichste konstituierende Element für Gerechtigkeit. Juristen kokettieren dennoch gern mit dem Satz, vor Gericht bekomme man nicht Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.
Fehlurteile lassen sich nicht verhindern, und sie können letztendlich jeden von uns treffen. Das dürfte übrigens einer der Hauptgründe dafür sein, dass der Fall Kachelmann eine solch nachhaltige Faszination ausübt. Trotzdem können Gerichtsurteile zutiefst dem persönlichen Rechtsempfinden widersprechen – und dabei doch gerecht sein.
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article12541143/In-Deutschland-ist-Recht-nicht-gleich-Gerechtigkeit.html
Ein Kindesentführer wird beim Verhör hart rangenommen, die Polizei will das Versteck des Bankierssohnes herauszwingen. Ein Gericht bestraft die Beamten später. Jetzt verlangt der Mörder Magnus Gäfgen Schmerzensgeld: Die Folterandrohung habe ihn traumatisiert. Am 17. März tagt in Frankfurt das Gericht. Wie würden Sie entscheiden?
Eine Kassiererin unterschlägt Pfandbons für 1,30 Euro und wird gekündigt. Das Landesarbeitsgericht hält das für rechtens, das Vertrauensverhältnis sei zerstört. Das Bundesarbeitsgericht hebt das Urteil auf: nur eine Pflichtwidrigkeit, eine Abmahnung genüge. Wie hätten Sie geurteilt?
Ein Zwei-Meter-Hüne tritt an der Hamburger U-Bahn zwei Störenfrieden entgegen, die seine Freundin belästigen. Die zwei schlagen den Mann aufs Kinn, er kippt um, schlägt auf den Hinterkopf und ist für immer behindert. Die geflohenen Täter erhalten eine Geldstrafe – wegen unterlassener Hilfeleistung. Sie hätten in Notwehr zugeschlagen, so die Richterin: Der Mann habe sie mit seiner Größe eingeschüchtert. Eine gerechte Entscheidung?
Nicht einmal ein Jahr Haft pro Menschenleben
Urteile aus deutschen Gerichtssälen machen die Öffentlichkeit immer häufiger fassungslos. Besonders bei Prozessen, wo es um Pädophile oder fahrlässige Tötung geht, klafft oft eine Lücke zur „gefühlten Gerechtigkeit“. Dass der „Raser von Rügen“ nur 39 Monate in Haft kam, nachdem er betrunken und bekokst vier junge Menschen getötet hatte, empörte viele maßlos. Nicht mal ein Jahr pro Menschenleben, klagte eine erbitterte Mutter, und aus zahllosen Internetforen kam Zustimmung.
Dass unser Rechtsystem nicht derart aufrechnet, ist gut und wichtig. Urteile müssen streng formalistischen Kriterien genügen. Der Berliner Jurist Ferdinand von Schirach, dessen Storys aus dem Gerichtssaal Bestseller wurden, formuliert es kühl: Ein Strafverfahren ist keine Therapiestunde und kein Kirchgang. Es geht nicht um Befindlichkeiten oder theologische Schuld, sondern um Beweise.
Doch bei dem wachsenden Unmut auf die Justiz spielen Vergleiche sehr wohl eine Rolle. Jörg Kachelmann soll wegen einer angeblichen Vergewaltigung bis zu 15 Jahre in Haft, während ein Pädophiler in Dorsten für mehrfachen Kindesmissbrauch zwei Jahre Bewährung bekommt? Pfandbondiebin „Emmely“ verliert den Job, während Banker ungestraft Milliardensummen verspielen? Sogar Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) nannte das Urteil deshalb „barbarisch“. Die Richter verbaten sich die Diffamierung zwar, doch der Ton gegenüber der Justiz verschärft sich.
Fernsehrichterin Barbara Salesch wird als gerechter empfunden
Das Handeln der früher so angesehenen Gerichte ist in unserer Mediengesellschaft zugänglicher geworden, gleichsam enthüllt; die Öffentlichkeit fühlt sich besser informiert und reagiert aufgeputschter als je zuvor. Ob Emmely oder Dominik Brunner, ob Winnenden oder Kachelmann: Die Justiz wird als unfair beschimpft, als wahlweise zu lasch oder vom Jagdinstinkt getrieben, als voreingenommen, eitel und korrupt.
Das alles passt trefflich zur Stimmungslage des Wutbürgers, der sich der Obrigkeit hilflos ausgeliefert fühlt. Gerichtsshows wie „Barbara Salesch“ schaffen zudem einen verzerrten Eindruck davon, wie anständige Juristen zu handeln hätten. „Richterin Saleschs Urteile sind ganz im Gegensatz zur Justiz gerecht, und ihre Begründungen sind logisch und allgemein verständlich“, schrieb einmal ein Leser an seine Zeitung. „Sie zeigt eine Justiz, wie sie sein sollte, nicht, wie sie ist.“ Der Glauben daran, dass in Gerichtssälen wenigstens Fairness garantiert ist, wenn schon nicht Wahrheit, gerät ins Wanken. Das ist gefährlich. Auf dem Spiel steht das Vertrauen in unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat.
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit findet sich in allen Epochen und Kulturen. Die Wissenschaft glaubt gar, dass sie tief in unserer Natur verankert ist. Wer seinen Chef für gerecht hält, soll ein geringeres Risiko für Herzkrankheiten haben. Der englische Philosoph John Stuart Mill räsonierte schon Mitte des 19. Jahrhunderts über das seltsame Bedürfnis, diejenigen bestraft zu sehen, die unser Gefühl von Gerechtigkeit verletzen, auch wenn wir gar nicht Opfer dieser Ungerechtigkeit sind. Mill folgerte: Wir verabscheuen Ungerechtigkeit, die uns nicht betrifft, weil es in unserem persönlichen Interesse liegt, dass die Gemeinschaft, in der wir leben, intakt ist.
Mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit der Wahrheit
Was Wunder also, wenn Bürger von der Justiz erwarten, dass Angeklagte „angemessen“ bestraft werden. Doch ein alle befriedigendes Urteil ist oft unmöglich, wie gerade der Winnenden-Prozess zeigte. Die Strafe für Tim K.'s Vater konnte niemals im Verhältnis zu den Wunden stehen, die die Tat bei vielen Familien gerissen hat. Genau das aber hatten die Angehörigen erhofft und wurden enttäuscht. Andere hielten zugleich für unfair, dass der Mann für seinen Sohn mitbüßen soll.
Mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit der Wahrheit: Jeder versteht etwas anderes darunter, jeder hat seine Perspektive. Selbst penibel geführte Strafprozesse können nur Annäherungen liefern. Gerade wenn, wie im Fall Kachelmann, Aussage gegen Aussage steht, ist das Risiko des Fehlurteils unvermeidlich. Richter sind keine Automaten, Beweiswürdigung ist keine mathematisch korrekte Wissenschaft. Die Causa Kachelmann liefert auch dafür Anschauungsmaterial: Das Landgericht Mannheim sah „dringenden Tatverdacht“ und steckte den Schweizer in U-Haft, das Oberlandesgericht Karlsruhe bewertete dieselben Beweise anders und ließ ihn frei.
Dass Gerichte unterschiedlich bewerten, heißt noch nicht, dass Verdächtige der Willkür ausgeliefert sind. Beklagte können sich im Zeugenstand rechtfertigen, oder sie lassen ihre Verteidiger für sich kämpfen bis hin zur möglichen Revision. Dafür muss jedes legale Mittel recht sein, ohne dass die Anwälte in der Öffentlichkeit für ihr Auftreten ausgebuht werden. Das Kräftemessen vor der Richterbank ist das wesentlichste konstituierende Element für Gerechtigkeit. Juristen kokettieren dennoch gern mit dem Satz, vor Gericht bekomme man nicht Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.
Fehlurteile lassen sich nicht verhindern, und sie können letztendlich jeden von uns treffen. Das dürfte übrigens einer der Hauptgründe dafür sein, dass der Fall Kachelmann eine solch nachhaltige Faszination ausübt. Trotzdem können Gerichtsurteile zutiefst dem persönlichen Rechtsempfinden widersprechen – und dabei doch gerecht sein.
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article12541143/In-Deutschland-ist-Recht-nicht-gleich-Gerechtigkeit.html