Bay.Landtag Anhörung

Anhörung des Ausschusses für Landesentwicklung und Umweltfragen des Bayerischen Landtags zum Thema „Wirkungszusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und der menschlichen Gesundheit“
K.E. Müller
Definitionen von Erkrankungen im Zusammenhang mit Umwelteinflüssen
1.
Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die einen Beleg für die bisher überwiegend vertretene Meinung erbracht hätten, Umwelterkrankungen seien bis auf geringfügige Ausnahmen psychosomatisch bedingt, weil die Angst vor Umwelt-belastung krank mache und nicht die Umwelteinwirkung selbst. Der Grund hierfür liegt darin, daß alle Untersuchungen sich wissenschaftlicher Methoden bedient haben, die ausschließlich für die Untersuchung bereits bekannter und im anderen Zusammenhang stehender Erkrankungen gebraucht wurden. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, daß bereits früher gebrauchte Methoden sich für die wissenschaftliche Erklärungen möglicher neuer Krankheiten eignen. Man kann mit diesen Methoden lediglich bereits bekannte Krankheiten ausschließen, neue in der Regel weder be- noch widerlegen.
Es war bisher in der Einschätzung von Krankheiten immer die Regel, daß neu auftretende Krankheiten mit einer psychosomatischen Interpretation versehen wurden, bis andere Zusammenhänge aufgedeckt werden konnten. Hüppe und Ohnsorge haben jüngst belegen können, daß z.B. MCS-Kranke keine höhere Somatisierungstendenz zeigen als klassische Allergiker und daß sie sich sehr wohl von Patienten von echten Organneurosen unterscheiden. Dies widerspricht der Ansicht, daß es sich bei den Umweltkrankheiten schlichtweg um Somatisierungs-störungen handeln könnte. Darüberhinaus muß festgestellt werden, daß gerade die jüngsten Kenntnisse der Psychoneuroimmunologie über das Verständnis psychischer Abläufe und die Koppelung psychischer Symptome mit somatischen Erkrankungen weder diagnostisch noch therapeutisch genutzt werden.
2.Es sind im wesentlichen epidemiologische Daten, die zeigen, daß besondere Risikogruppen in einer Häufigkeit betroffen sind, die ihrem tatsächlichem Vorkommen in der allgemeinen Bevölkerung nicht entspricht. Als Beispiel seien in diesem Zusammenhang die Krankenschwestern genannt. Hinsichtlich des Auftretens endokriner und kognitiver Störungen hat Prof. Dörner chronisch DDT/DDE-Belastete der ehemaligen DDR langjährig untersucht und die Zusammenhänge genau darstellen können. Von mit selbst wurde der Zusammenhang der Schädigung dopaminger D2-Rezeptoren in Risikogruppen untersucht und in signifikanter Häufigkeit nachgewiesen.
3.Umweltmedizin ist die medizinische Disziplin, die sich mit der Erkennung, Erforschung, Diagnostik, Therapie und Vermeidung von Gesundheits- und Befindensstörungen sowie der Erkennung, Erforschung, Bewertung und Minimierung von Risiken beschäftigt, deren Ursachen auf definierbare Bereiche der Mensch- Umwelt- Interaktionen zurückzuführen sind. Die definierten Bereiche der Mensch-Umwelt-Interaktion sind hierbei die anthropogen bedingten, direkten und indirekten Umwelteinflüsse physikalischer, chemischer, biologischer, soziospychologischer und perzeptiver Art (Mersch-Sundermann in: Umweltmedizin, Thieme-Verlag 1999). Die Folgen der Einwirkungen können aus umweltmedizinischer Sicht nur im Zusammenhang mit der Bewertung der individuellen Suszeptibilität individuell adäquat eingeschätzt werden (Müller, 2001).
4.Berücksichtigt man neben den wichtigen umweltmedizinischen Erkrankungen MCS und CFS auch Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises einschließlich Fibromyalgie, die Auswirkung chronischer Xenobiotikabelastung auf die Induktion von Zelladhäsionsmollekülen der Endothelien und die daraus resultierenden Gefäßkrankheiten, die Modulation des Immunverhaltens einschließlich der Induktion von Autoimmunität, dürften umweltmedizinische Faktoren bei mindestens 30% aller Erkrankten eine Rolle spielen.
Art und Erscheinungsbild von Umwelterkrankungen
5.Häufig genannte Symptome sind: Konzentrationsstörungen, Vergeßlichkeit (insbesondere Kurzzeitgedächtnis), Denkschwäche, Schlafstörungen, Empfindungs-störungen, Angstzustände, Depressionen, Müdigkeit, schnelle Erschöpfbarkeit, Muskelschwäche- und schmerzen, Morgensteifigkeit, Gelenk- und Halsschmerzen, Hustenreiz, Lymphknotenschwellungen sowie Temperaturempfindlichkeit. Prinzipiell werden die genannten Symptome sowohl von Patienten mit MCS und CFS als auch mit Fibromyalgie genannt. Die Hierarchie der Symptome, ihre Sensitivität und Spezifität sowie die Genauigkeit unterscheiden sich in den drei Erkrankungsgruppen deutlich (Berg).
6.Als häufigste Ursache werden von Ärzten und Umweltpatienten chronische Fremd-stoffbelastungen am Arbeitsplatz, im privaten Lebensumfeld sowie durch Dentalmaterialien und Nahrungsmittel angeführt. Eine nicht geringe Zahl bemerkt den Beginn der Erkrankung im Anschluß an eine akute Infektion.
7.Man versteht unter Multiple Chemical Sensitivity Syndrom (MCS) eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber alltäglich vorkommenden Chemikalien im Niedrigdosis-bereich. Am häufigsten wird die symptomorientierte Definition des Arbeitsmediziners Cullen (1987) verwendet:
· Die Symptome wurden im Zusammenhang mit einer dokumentierbaren Umweltexposition erworben.
· Die Symptome betreffen mehr als ein Organ.
· Die Symptome erscheinen und verschwinden im Zusammenhang mit vorherseh-barem Reiz.
· Die Symptome werden durch Chemikalien unterschiedlicher Struktur und Wirkmechanismus hervorgerufen
· Die Symptome werden durch nachweisbare, niedrigdosierte Expositionen ausgelöst, die im Bereich von 1 % der üblichen Schwellendosis liegen.
· Übliche Organfunktionsteste können die Symptome nicht erklären.
Eine weitere gebräuchliche Definition ist die von Netherton, die nur geringfügig von der o.g. abweicht.
8.Die wesentlichen Umwelterkrankungen sind MCS, CFS und ein Teil der Fibro-myalgieerkrankungen. Ebenso können jedoch ein Teil der Autoimmunkrankheiten, vaskuläre Krankheiten, Hypertonie, Enzephalopathien, Neuropathien, gastroente-rologische Erkrankungen und Krankheiten des blutbildenden Systems hierdurch ausgelöst werden.
9.Lebensumfeld und Lebensgewohnheiten sind bei Umweltpatienten von zentraler Bedeutung. Einerseits können hier die Auslöser von Krankheiten gefunden werden (z.B. PCB, PCP, Pyrethroide, Formaldehyd,u.a.), andererseits spielen auch Ernährungsgewohnheiten und Genußmittelgebrauch, Musikkonsum und Hobby eine Rolle.
10.Es gibt keinen Hinweis darauf, daß die Menschen sensibler werden. Ihre biologischen Systeme werden allerdings sensitiver. Insbesondere macht die Funktion des Immunsystems derzeit einen Wandel von den infektorientierten Aufgaben zu den chemikalienbezogen Funktionen durch. Entwicklungsgeschichtlich werden hieraus im Verlauf vieler Generationen neue Strategien resultieren. Die Systeme sind allerdings außer Stand, sich solchen dramatischen Änderungen, wie sie zwischen 1950 und jetzt abgelaufen sind, in der zu Verfügung stehenden kurzen Zeit adäquat zu adaptieren. Die immunologischen Anpassungsmöglichkeiten unterliegen darüber-hinaus erheblichen individuellen Schwankungen, die resultierenden Leistungsprofile sind zudem teilweise genetisch konditioniert. Hinzu kommt, daß die chronische Einwirkung von Schadstoffgemisch eine besonders hohe Anforderung an die Detoxifikationsfähigkeit der einzelnen Menschen stellt. Dem Polymorphismus der Detoxifikationsfähigkeit wurde in der Betrachtung dieser Gesundheitsstörungen bislang zu wenig Raum gegeben.
11.In eigenen Untersuchungen verursachten Pestizide bei 89% der Patienten Hirnleistungsstörungen, Lösemittel waren zu 83%, Pentachlorphenol zu 78% und Quecksilber zu 79% die Auslöser. 80% der Lösemittelbelasteten klagten über Koordinationsstörungen, 61% der PCP-und 58% der Pestizidbelasteten sowie bei 59% der Amalgampatienten. Bei allen Belastungsgruppen traten Muskel- und Gelenkschmerzen bei 65% auf, Müdigkeit und Antriebsarmut wurde von 48% genannt.
Methoden der Diagnostik und Therapie
12.
Ich gehe mit den umwelterkrankten Patienten um, Umwelterkrankungen handhabe ich nach einem rationalen Verständnis, das sich ich von der Beschäftigung mit anderen, bislang in ihren kausalen Zusammenhängen nicht völlig verstandenen Erkrankungen, nicht unterscheidet. Wobei der weitaus größte Teil aller bekannten Krankheiten in ihren Ursachen nicht völlig verstanden ist. Die komplexe Erfassung von Daten setzt voraus, daß der Patient sich mit seinem Beschwerdebild zunächst angenommen fühlen kann. Diese Vertrauensbasis ist erforderlich, wenn es zu einem unbehinderten Informationsaustausch zwischen Patient und Arzt kommen soll.
· Phase 1
Anamneseerhebung, Gebrauch von Fragebogen, Einbeziehung von Vorbefunden, körperliche Untersuchung, Formulierung der ersten Arbeits-hypothese.
· Phase 2
Konsiliarische Einbeziehung anderer Disziplinen und grundlegende Laborunter-suchungen. Fokusierung der Anamnese auf spezifische Punkte. Formulierung der zweiten Arbeitshypothese.
· Phase 3
Gegebenenfalls Humanbio- bzw.Umweltmonitoring. Wenn möglich Inspektion des Expositionsumfelds.
· Phase 4
Effekt- und Empfindlichkeitsmonitoring, früher durch Plazebo kontrollierte Expositionstestungen, inzwischen zunehmende Verlagerung auf zelluläres Effektmonitoring unter Einbeziehung von Zytokinprofilen.
· Phase 5
Formulierung der endgültigen Diagnosen und Gestaltung therapeutischer Konzepte. In allen Schritten werden neueste Forschungsresultate modulierend auf den Ablauf frühzeitig einbezogen.
13.
Wie bei allen chronischen Erkrankungen kommt psychotherapeutischen Maßnahmen auch bei Umweltpatienten eine Bedeutung zu. Es handelt sich hierbei um keine Methode der Diagnostik. Psychiatrische und psychologische Methoden sind hinsichtlich ihrer diagnostischen Bedeutung für Umweltpatienten nicht validiert. Für die somatische Diagnostik kann auf etablierte Verfahren zurückgegriffen werden, die methodisch derzeit in besonders intensiver Weise auf die besonderen Ansprüche der Umwelterkrankung modifiziert werden. In erster Linie sind zu nennen:
· Immunologische Untersuchungen einschließlich der Bestimmung von Zytokinprofilen
· Qualitative und quantitative Analyse der Detoxifikationssysteme
· Humangenetische Profile dieser Systeme
· Biomonitoring
· Radiologische und Nuklearmedizinische Verfahren (PET, SPECT)
· Expositionstestungen
· Psychometrische Untersuchungen
14.
Es gibt eine große Zahl von Kliniken, die mit entsprechenden Konzepten behandeln. Kostenträger sind alle GKV und die Renten-versicherungsträger. Dennoch liegen bislang keine Daten über eine größere Zahl psychotherapeutisch behandelter Umweltpatienten im Vergleich zu einer anders behandelten Vergleichsgruppe vor. Von den ambulant tätigen Umweltmedizinern, die andere Behandlungsverfahren einsetzten wollen, wird allerdings genau eine solche Studie a priori gefordert, was in der ambulanten Medizin aus vielen Gründen nicht leistbar ist.
15.
Expositionsminimierung ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie umweltkranker Patienten. Insofern müssen besondere Anforderungen an das bauliche und räumliche Konzept einer Klinik gestellt werden. Personal, Nahrungsangebot und Hygienemaßnahmen müssen dieser besonderen Situation entsprechen.
16.
Will man den Wert verschieden diagnostischer und therapeutischer Ansätze erkennen, gelingt dies nur, wenn die verschiedenen Verfahren auch nebeneinander angewendet werden können. Beispielhaft kann man sich die Entwicklung im Verständnis allergischer Erkrankungen vor Augen halten. Obwohl man in den 60er Jahren noch sehr weit entfernt war, vom heutigen pathogenetischen Verständnis allergischer Krankheiten, hat man dennoch von politischer Seite und von Seite der Versicherungsträger einen offenen diagnostischen und therapeutischen Umgang mit diesen Erkrankungen gefördet. Es hat sich dies als äußerst nützlich erwiesen, da das Grundlagenverständnis an den Universitäten zu diesem Zeitpunkt denkbar schlecht war. Auf diesem Weg konnten wichtige Erkenntnisse schneller in die Lehre eingebracht werden, so daß sie heute selbstverständlicher Gegenstand sind. Eine vergleichbar offene und vielschichtige Strategie bietet sich für den Umgang mit Umwelterkrankung an.
Forschungsansätze
17.
Die Forschungsansätze von universitären und klinischen Einrichtungen unter-scheiden sich prinzipiell erheblich zu denen der praktisch tätigen Umweltmedizin. Während sich Erstere im wesentlichen an klassischen Dosis-Wirkungsbeziehungen der Toxikologie, den Grenzwertvorstellungen der Arbeitsmedizin bzw. den pathogenetischen Modellen der Allergologie orientieren, wird in der praktisch tätigen Umweltmedizin seit längerem bereits versucht, individuelle Risikofaktoren, die Problematik der chronischen Exposition im Niedrigdosisbereich, die Wirkung komplexer Gemische und die Polymorphismen der Detoxifikationsfähigkeit stärker in die Pathogenese der Krankheitsgeschehens einzubeziehen. Gleichzeitig werden gemachte Beobachtungen bestimmten Risikogruppen zugeordnet, sofern dies transparent wird.
Zahlreiche der niedergelassenen Umweltmediziner arbeiten bereits seit Jahren nach solchen Modellen, ohne daß es finanzielle Unterstützung mit öffentlichen Geldern bzw. Hilfestellung durch die Versicherungsträger bisher in nennenswerten Umfang gegeben hätte. Es kann damit gerechnet werden, daß es innerhalb der nächsten beiden Jahre ganz wesentliche Beiträge zur Aufklärung der Kooperation des neurologischen und immunologischen Datentransfers und seiner Modulation durch Fremdstoffe geben wird. Diese Ansätze werden ganz entscheidend zur Klärung der Zusammenhänge von MCS beitragen können.
18.
Forschungsaufträge sind dringend erforderlich, wobei es unabdingbar ist, daß nicht mehr ausschließlich falsifizierende Konzepte unterstützt werden. Es müssen auch diejenigen Forscher gute Arbeitsbedingungen bekommen, die prinzipiell einen solchen Zusammenhang für möglich halten, da gerade ihre Tätigkeit für die Prävention ganz entscheidend sein wird. Folgende Sachbereiche sind von besonderer Tragweite:
· Entwicklung neuer Methodik zum besseren Verständnis äußerst komplexer Zusammenhänge, wie es bei umweltmedizinischen Erkrankungen in der Regel der Fall ist. Biokybernetische Modelle bieten hierzu einen Ansatz. Vom dbu wurde zu diesem Thema vor einem Jahr ein Kongreß mit Referenten aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen in Würzburg angeboten. Von den fast 2000 eingeladenen Klinikern erschien hierzu nicht einer.
· Untersuchung psychoneuroimmunologischer Zusammenhänge und ihre Modulation durch Fremdstoffe, wie es von Maes (Antwerpen,Maastrich) bereits angedacht worden ist. Private Forschungsprojekte sind diesbezüglich bereits im Gang.
· Validierung neurologischer Verfahren (PET, SPECT) und Festlegung ihres Stellenwerts für die Diagnostik umweltmedizinscher Erkrankungen. Die neuroradiologische Darstellung von Transmitter-Rezeptoren, ihrer Dichte und ihrer Funktion muß in die Forschung einbezogen werden.
· Parallel hierzu bereits Validierung von therapeutischen Konzepten um den Patienten zu Behandlungskonzepten zu verhelfen, die auch im Versicherungs-wesen akzeptiert sind.
· Entwicklung verhaltenstherapeutischer Strategien, um den chronisch erkrankten Umweltpatienten eine bessere Handhabe im Umgang mit ihren Krankheiten zu ermöglichen.
· Untersuchung alternativer Methoden hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, da sich bisher gezeigt hat, daß Patienten mit solchen Behandlungsansätzen mitunter besser zu Recht kommen als mit klassischer alopatischer Therapie.
Handlungsbedarf
19.
Die Kenntnisse um die vorhandenen Grenzwertbestimmungen sind unter akuten bis subakuten Belastungsbedingungen im Umgang mit Einzelstoffen unter Beobachtung kurzer Zeiträume gewonnen worden. Dies wird der Wirklichkeit umweltmedizinischer Krankheiten nicht gerecht. Für diesen Bereich spielen Langzeitexpositionen im Niedrig-dosisbereich die entscheidende Rolle, wobei in der Regel komplexe Gemische vorhanden sind. Weisen schon alle Erwachsenen jüngeren und mittleren Lebensalters einen erheblichen Unterschied im Umgang mit Fremdstoffen auf, kommt bei den Kindern die mangelhaft Entwicklung solcher Systeme im Säuglings- und Kleinkindalter und die besonderen Anforderungen im Wachstumsalter hinzu. Für ältere Menschen verhält sich die Lebenssituation eigentlich umgekehrt zu der in der Medizin akzeptierten. Für viele Schadstoffe ist es Standard, daß ihr Gehalt im menschlichen Organismus mit dem Lebensalter korreliert wachsen kann. Die Fähigkeit mit solchen Belastungen umzugehen nimmt allerdings mit steigendem Lebensalter erheblich ab, so daß eine konstante Abnahme solcher Belastungen im höheren Alter zu fordern wäre. Die Wirklichkeit ist von diesem Sachverhalt weit entfernt.
20.
Prinzipiell geht es um die Frage, welches Risiko die Einbringung von Fremdmaterialien in den menschlichen Organismus entstehen kann, wenn diese Stoffe über Jahre, oftmals Jahrzehnte verweilen sollen. Die dabei am häufigsten gebrauchten Materialien sind bislang Dentalmetalle. Andere Fremdstoffe sind allerdings in zunehmenden Maße bedeutsam. Die Bewertung von Dentalmetallen erfolgte bislang praktisch ausschließlich auf bisher bekannen bzw. angenommenen Dosis-Wirkungsbeziehungen für den Kurzzeitgebrauch. Eine kürzlich abgeschlossene WHO-Studie hat unter deutsche Führung (Drasch und Mitarbeiter) ein philippinisch, quecksilberexponierten Bergwerks-arbeitern gezeigt, daß die Bestimmung des Metalls im Blut kein signifikante Korrelation zur Schwere der Krankheit zeigte. Diese Aussage wird im Umgang mit Amalgam bereits seit vielen Jahren von zahlreichen Untersuchern einschließlich mir in Deutschland gemacht. Prinzipiell hätte man vergleichbare Resultate bei sorgfälltiger Arbeit bereits aus der Marktredwitz-Studie erwarten können.
Die weiterhin aufrechterhaltene Aussage, daß die Nahrung die wesentliche Quelle des Quecksilbers ist, ist falsch. Sie wird praktisch in allen Argumentationen der Sozialgerichte und der Krankenversicherer benutzt, obwohl im Handbuch für experimentelle Pharmakologie, Sonderband „Toxycologie of metals“ von Gojer und Cherian auf Seite 175 bereits vor Jahren festgestellt wird, daß Amalgam die wesentliche Quelle ist. Die Auswirkungen sind vielfältig und hängen ganz entscheidend von der Leistungsfähigkeit des Glutathionsystems im menschlichen Organismus ab, das sehr variabel angelegt ist. Folgende Mechanismen können festgestellt werden:
· Die Induktion der Freisetzung von Mediatoren aus Mastzellen und ihrer Auswirkung auf die Typ-I-Allergie, die Entwicklung von Pseudoallergien und chronische Entzündung.
· Die systemische Formierung von Neoantigenen und Induktion zellulärer Sensibilsierung.
· Die Entwicklung von Autoimmunität
· Die Möglichkeit der Auslösung maligner Proliferation durch ungehemmtes Klonen sensibilisierter T oder B Zellen.
· Der Einfluß auf die detoxifizierenden Systeme, insbesondere das Glutathion-System.
· Die Induktion der Bildung von Zelladhäsionsmolekülen und ihre Rolle für vaskuläre Erkrankung einschließlich der Hypertonie
· Die Wirkung auf Rezeptormembramen am Beispiel der dopaminergen D2-Rezeptoren der Basalganglien.
· Die Beeinflussung der Durchlässigkeit der Blut-Hirnschranke
Die Nachteile des Gebrauchs von Amalgam sind so komplex und für die Kosten im Gesundheitswesen so verheerend, daß die Vorteile des Gebrauchs dieses Materials (einfacher Handhabe mit guten funktionellen Resultaten, kostengünstige Primärausgaben) diese Nachteile bei weitem nicht aufwiegen. Die dargestellten immunologischen Risiken unterliegen der klassischen Dosis-Wirkungsbeziehung nicht. Entscheidend hierfür sind die individuelle Suszeptibilität aufgrund immunologischer Mechanismen und des Polymorphismus der Detoxifikationssysteme bzw. der Modulation beider Systeme durch exogene Faktoren sowie ein ausreichend langer Gebrauch bei solchen Personen.
21.
Lärm ist subjektiv und objektiv einer der wichtigsten Umweltfaktoren. Ca. 16% der Bevölkerung der BRD sind hiervon betroffen. Will man, wie geplant, der Salutugenese gegenüber der Betreuung bereits Erkrankter ein höheres Gewicht verleihen, gehört es zu den wesentlichen gesundheitspolitischen Entscheidungen, Lärmbelastung in besonders betroffenen Bereichen deutlich zu senken.
22.
Der gegenwärtige Zustand des Gesundheitswesens ist das Resultat bisher gewählter medizinischer, gesundheitspolitischer und politischer Strategien. Das Gesundheitswesen hat die vorliegenden Probleme mit den bisherigen Strategien nicht lösen können. Trotz erheblicher finanzieller und personeller Aufwendungen steigen die Morbiditätsraten für chronische Erkrankungen weiter beständig, was nicht alleine durch die älter werdende Population zu erklären ist. Es ist dringend geboten, daß von politischer Seite ein Vertrauensvorschuß in neue Wege erfolgt und neue Wege neben den bisher gebräuchlichen begangen werden muß. Entgegen allem bisherigen Verständnis erfüllt der größte Teil der gegenwärtig gebräuchlichen Medizin nicht den Anspruch für clinical evidence. Nur die raschere Korrektur überkommener Positionen und die Senkung der Morbiditätsrisiken für chronische Krankheiten durch eine effiziente Prävention können erreichen, daß Fortschritte in der Medizin finanzierbar bleiben und denjenigen, die ihrer bedürfen auch zur Verfügung stehen.
Dr.med.Kurt E.Müller
Schwerrwiesenweg 16
88316 Isny
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K.E. Müller
Definitionen von Erkrankungen im Zusammenhang mit Umwelteinflüssen
1.
Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die einen Beleg für die bisher überwiegend vertretene Meinung erbracht hätten, Umwelterkrankungen seien bis auf geringfügige Ausnahmen psychosomatisch bedingt, weil die Angst vor Umwelt-belastung krank mache und nicht die Umwelteinwirkung selbst. Der Grund hierfür liegt darin, daß alle Untersuchungen sich wissenschaftlicher Methoden bedient haben, die ausschließlich für die Untersuchung bereits bekannter und im anderen Zusammenhang stehender Erkrankungen gebraucht wurden. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, daß bereits früher gebrauchte Methoden sich für die wissenschaftliche Erklärungen möglicher neuer Krankheiten eignen. Man kann mit diesen Methoden lediglich bereits bekannte Krankheiten ausschließen, neue in der Regel weder be- noch widerlegen.
Es war bisher in der Einschätzung von Krankheiten immer die Regel, daß neu auftretende Krankheiten mit einer psychosomatischen Interpretation versehen wurden, bis andere Zusammenhänge aufgedeckt werden konnten. Hüppe und Ohnsorge haben jüngst belegen können, daß z.B. MCS-Kranke keine höhere Somatisierungstendenz zeigen als klassische Allergiker und daß sie sich sehr wohl von Patienten von echten Organneurosen unterscheiden. Dies widerspricht der Ansicht, daß es sich bei den Umweltkrankheiten schlichtweg um Somatisierungs-störungen handeln könnte. Darüberhinaus muß festgestellt werden, daß gerade die jüngsten Kenntnisse der Psychoneuroimmunologie über das Verständnis psychischer Abläufe und die Koppelung psychischer Symptome mit somatischen Erkrankungen weder diagnostisch noch therapeutisch genutzt werden.
2.Es sind im wesentlichen epidemiologische Daten, die zeigen, daß besondere Risikogruppen in einer Häufigkeit betroffen sind, die ihrem tatsächlichem Vorkommen in der allgemeinen Bevölkerung nicht entspricht. Als Beispiel seien in diesem Zusammenhang die Krankenschwestern genannt. Hinsichtlich des Auftretens endokriner und kognitiver Störungen hat Prof. Dörner chronisch DDT/DDE-Belastete der ehemaligen DDR langjährig untersucht und die Zusammenhänge genau darstellen können. Von mit selbst wurde der Zusammenhang der Schädigung dopaminger D2-Rezeptoren in Risikogruppen untersucht und in signifikanter Häufigkeit nachgewiesen.
3.Umweltmedizin ist die medizinische Disziplin, die sich mit der Erkennung, Erforschung, Diagnostik, Therapie und Vermeidung von Gesundheits- und Befindensstörungen sowie der Erkennung, Erforschung, Bewertung und Minimierung von Risiken beschäftigt, deren Ursachen auf definierbare Bereiche der Mensch- Umwelt- Interaktionen zurückzuführen sind. Die definierten Bereiche der Mensch-Umwelt-Interaktion sind hierbei die anthropogen bedingten, direkten und indirekten Umwelteinflüsse physikalischer, chemischer, biologischer, soziospychologischer und perzeptiver Art (Mersch-Sundermann in: Umweltmedizin, Thieme-Verlag 1999). Die Folgen der Einwirkungen können aus umweltmedizinischer Sicht nur im Zusammenhang mit der Bewertung der individuellen Suszeptibilität individuell adäquat eingeschätzt werden (Müller, 2001).
4.Berücksichtigt man neben den wichtigen umweltmedizinischen Erkrankungen MCS und CFS auch Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises einschließlich Fibromyalgie, die Auswirkung chronischer Xenobiotikabelastung auf die Induktion von Zelladhäsionsmollekülen der Endothelien und die daraus resultierenden Gefäßkrankheiten, die Modulation des Immunverhaltens einschließlich der Induktion von Autoimmunität, dürften umweltmedizinische Faktoren bei mindestens 30% aller Erkrankten eine Rolle spielen.
Art und Erscheinungsbild von Umwelterkrankungen
5.Häufig genannte Symptome sind: Konzentrationsstörungen, Vergeßlichkeit (insbesondere Kurzzeitgedächtnis), Denkschwäche, Schlafstörungen, Empfindungs-störungen, Angstzustände, Depressionen, Müdigkeit, schnelle Erschöpfbarkeit, Muskelschwäche- und schmerzen, Morgensteifigkeit, Gelenk- und Halsschmerzen, Hustenreiz, Lymphknotenschwellungen sowie Temperaturempfindlichkeit. Prinzipiell werden die genannten Symptome sowohl von Patienten mit MCS und CFS als auch mit Fibromyalgie genannt. Die Hierarchie der Symptome, ihre Sensitivität und Spezifität sowie die Genauigkeit unterscheiden sich in den drei Erkrankungsgruppen deutlich (Berg).
6.Als häufigste Ursache werden von Ärzten und Umweltpatienten chronische Fremd-stoffbelastungen am Arbeitsplatz, im privaten Lebensumfeld sowie durch Dentalmaterialien und Nahrungsmittel angeführt. Eine nicht geringe Zahl bemerkt den Beginn der Erkrankung im Anschluß an eine akute Infektion.
7.Man versteht unter Multiple Chemical Sensitivity Syndrom (MCS) eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber alltäglich vorkommenden Chemikalien im Niedrigdosis-bereich. Am häufigsten wird die symptomorientierte Definition des Arbeitsmediziners Cullen (1987) verwendet:
· Die Symptome wurden im Zusammenhang mit einer dokumentierbaren Umweltexposition erworben.
· Die Symptome betreffen mehr als ein Organ.
· Die Symptome erscheinen und verschwinden im Zusammenhang mit vorherseh-barem Reiz.
· Die Symptome werden durch Chemikalien unterschiedlicher Struktur und Wirkmechanismus hervorgerufen
· Die Symptome werden durch nachweisbare, niedrigdosierte Expositionen ausgelöst, die im Bereich von 1 % der üblichen Schwellendosis liegen.
· Übliche Organfunktionsteste können die Symptome nicht erklären.
Eine weitere gebräuchliche Definition ist die von Netherton, die nur geringfügig von der o.g. abweicht.
8.Die wesentlichen Umwelterkrankungen sind MCS, CFS und ein Teil der Fibro-myalgieerkrankungen. Ebenso können jedoch ein Teil der Autoimmunkrankheiten, vaskuläre Krankheiten, Hypertonie, Enzephalopathien, Neuropathien, gastroente-rologische Erkrankungen und Krankheiten des blutbildenden Systems hierdurch ausgelöst werden.
9.Lebensumfeld und Lebensgewohnheiten sind bei Umweltpatienten von zentraler Bedeutung. Einerseits können hier die Auslöser von Krankheiten gefunden werden (z.B. PCB, PCP, Pyrethroide, Formaldehyd,u.a.), andererseits spielen auch Ernährungsgewohnheiten und Genußmittelgebrauch, Musikkonsum und Hobby eine Rolle.
10.Es gibt keinen Hinweis darauf, daß die Menschen sensibler werden. Ihre biologischen Systeme werden allerdings sensitiver. Insbesondere macht die Funktion des Immunsystems derzeit einen Wandel von den infektorientierten Aufgaben zu den chemikalienbezogen Funktionen durch. Entwicklungsgeschichtlich werden hieraus im Verlauf vieler Generationen neue Strategien resultieren. Die Systeme sind allerdings außer Stand, sich solchen dramatischen Änderungen, wie sie zwischen 1950 und jetzt abgelaufen sind, in der zu Verfügung stehenden kurzen Zeit adäquat zu adaptieren. Die immunologischen Anpassungsmöglichkeiten unterliegen darüber-hinaus erheblichen individuellen Schwankungen, die resultierenden Leistungsprofile sind zudem teilweise genetisch konditioniert. Hinzu kommt, daß die chronische Einwirkung von Schadstoffgemisch eine besonders hohe Anforderung an die Detoxifikationsfähigkeit der einzelnen Menschen stellt. Dem Polymorphismus der Detoxifikationsfähigkeit wurde in der Betrachtung dieser Gesundheitsstörungen bislang zu wenig Raum gegeben.
11.In eigenen Untersuchungen verursachten Pestizide bei 89% der Patienten Hirnleistungsstörungen, Lösemittel waren zu 83%, Pentachlorphenol zu 78% und Quecksilber zu 79% die Auslöser. 80% der Lösemittelbelasteten klagten über Koordinationsstörungen, 61% der PCP-und 58% der Pestizidbelasteten sowie bei 59% der Amalgampatienten. Bei allen Belastungsgruppen traten Muskel- und Gelenkschmerzen bei 65% auf, Müdigkeit und Antriebsarmut wurde von 48% genannt.
Methoden der Diagnostik und Therapie
12.
Ich gehe mit den umwelterkrankten Patienten um, Umwelterkrankungen handhabe ich nach einem rationalen Verständnis, das sich ich von der Beschäftigung mit anderen, bislang in ihren kausalen Zusammenhängen nicht völlig verstandenen Erkrankungen, nicht unterscheidet. Wobei der weitaus größte Teil aller bekannten Krankheiten in ihren Ursachen nicht völlig verstanden ist. Die komplexe Erfassung von Daten setzt voraus, daß der Patient sich mit seinem Beschwerdebild zunächst angenommen fühlen kann. Diese Vertrauensbasis ist erforderlich, wenn es zu einem unbehinderten Informationsaustausch zwischen Patient und Arzt kommen soll.
· Phase 1
Anamneseerhebung, Gebrauch von Fragebogen, Einbeziehung von Vorbefunden, körperliche Untersuchung, Formulierung der ersten Arbeits-hypothese.
· Phase 2
Konsiliarische Einbeziehung anderer Disziplinen und grundlegende Laborunter-suchungen. Fokusierung der Anamnese auf spezifische Punkte. Formulierung der zweiten Arbeitshypothese.
· Phase 3
Gegebenenfalls Humanbio- bzw.Umweltmonitoring. Wenn möglich Inspektion des Expositionsumfelds.
· Phase 4
Effekt- und Empfindlichkeitsmonitoring, früher durch Plazebo kontrollierte Expositionstestungen, inzwischen zunehmende Verlagerung auf zelluläres Effektmonitoring unter Einbeziehung von Zytokinprofilen.
· Phase 5
Formulierung der endgültigen Diagnosen und Gestaltung therapeutischer Konzepte. In allen Schritten werden neueste Forschungsresultate modulierend auf den Ablauf frühzeitig einbezogen.
13.
Wie bei allen chronischen Erkrankungen kommt psychotherapeutischen Maßnahmen auch bei Umweltpatienten eine Bedeutung zu. Es handelt sich hierbei um keine Methode der Diagnostik. Psychiatrische und psychologische Methoden sind hinsichtlich ihrer diagnostischen Bedeutung für Umweltpatienten nicht validiert. Für die somatische Diagnostik kann auf etablierte Verfahren zurückgegriffen werden, die methodisch derzeit in besonders intensiver Weise auf die besonderen Ansprüche der Umwelterkrankung modifiziert werden. In erster Linie sind zu nennen:
· Immunologische Untersuchungen einschließlich der Bestimmung von Zytokinprofilen
· Qualitative und quantitative Analyse der Detoxifikationssysteme
· Humangenetische Profile dieser Systeme
· Biomonitoring
· Radiologische und Nuklearmedizinische Verfahren (PET, SPECT)
· Expositionstestungen
· Psychometrische Untersuchungen
14.
Es gibt eine große Zahl von Kliniken, die mit entsprechenden Konzepten behandeln. Kostenträger sind alle GKV und die Renten-versicherungsträger. Dennoch liegen bislang keine Daten über eine größere Zahl psychotherapeutisch behandelter Umweltpatienten im Vergleich zu einer anders behandelten Vergleichsgruppe vor. Von den ambulant tätigen Umweltmedizinern, die andere Behandlungsverfahren einsetzten wollen, wird allerdings genau eine solche Studie a priori gefordert, was in der ambulanten Medizin aus vielen Gründen nicht leistbar ist.
15.
Expositionsminimierung ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie umweltkranker Patienten. Insofern müssen besondere Anforderungen an das bauliche und räumliche Konzept einer Klinik gestellt werden. Personal, Nahrungsangebot und Hygienemaßnahmen müssen dieser besonderen Situation entsprechen.
16.
Will man den Wert verschieden diagnostischer und therapeutischer Ansätze erkennen, gelingt dies nur, wenn die verschiedenen Verfahren auch nebeneinander angewendet werden können. Beispielhaft kann man sich die Entwicklung im Verständnis allergischer Erkrankungen vor Augen halten. Obwohl man in den 60er Jahren noch sehr weit entfernt war, vom heutigen pathogenetischen Verständnis allergischer Krankheiten, hat man dennoch von politischer Seite und von Seite der Versicherungsträger einen offenen diagnostischen und therapeutischen Umgang mit diesen Erkrankungen gefördet. Es hat sich dies als äußerst nützlich erwiesen, da das Grundlagenverständnis an den Universitäten zu diesem Zeitpunkt denkbar schlecht war. Auf diesem Weg konnten wichtige Erkenntnisse schneller in die Lehre eingebracht werden, so daß sie heute selbstverständlicher Gegenstand sind. Eine vergleichbar offene und vielschichtige Strategie bietet sich für den Umgang mit Umwelterkrankung an.
Forschungsansätze
17.
Die Forschungsansätze von universitären und klinischen Einrichtungen unter-scheiden sich prinzipiell erheblich zu denen der praktisch tätigen Umweltmedizin. Während sich Erstere im wesentlichen an klassischen Dosis-Wirkungsbeziehungen der Toxikologie, den Grenzwertvorstellungen der Arbeitsmedizin bzw. den pathogenetischen Modellen der Allergologie orientieren, wird in der praktisch tätigen Umweltmedizin seit längerem bereits versucht, individuelle Risikofaktoren, die Problematik der chronischen Exposition im Niedrigdosisbereich, die Wirkung komplexer Gemische und die Polymorphismen der Detoxifikationsfähigkeit stärker in die Pathogenese der Krankheitsgeschehens einzubeziehen. Gleichzeitig werden gemachte Beobachtungen bestimmten Risikogruppen zugeordnet, sofern dies transparent wird.
Zahlreiche der niedergelassenen Umweltmediziner arbeiten bereits seit Jahren nach solchen Modellen, ohne daß es finanzielle Unterstützung mit öffentlichen Geldern bzw. Hilfestellung durch die Versicherungsträger bisher in nennenswerten Umfang gegeben hätte. Es kann damit gerechnet werden, daß es innerhalb der nächsten beiden Jahre ganz wesentliche Beiträge zur Aufklärung der Kooperation des neurologischen und immunologischen Datentransfers und seiner Modulation durch Fremdstoffe geben wird. Diese Ansätze werden ganz entscheidend zur Klärung der Zusammenhänge von MCS beitragen können.
18.
Forschungsaufträge sind dringend erforderlich, wobei es unabdingbar ist, daß nicht mehr ausschließlich falsifizierende Konzepte unterstützt werden. Es müssen auch diejenigen Forscher gute Arbeitsbedingungen bekommen, die prinzipiell einen solchen Zusammenhang für möglich halten, da gerade ihre Tätigkeit für die Prävention ganz entscheidend sein wird. Folgende Sachbereiche sind von besonderer Tragweite:
· Entwicklung neuer Methodik zum besseren Verständnis äußerst komplexer Zusammenhänge, wie es bei umweltmedizinischen Erkrankungen in der Regel der Fall ist. Biokybernetische Modelle bieten hierzu einen Ansatz. Vom dbu wurde zu diesem Thema vor einem Jahr ein Kongreß mit Referenten aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen in Würzburg angeboten. Von den fast 2000 eingeladenen Klinikern erschien hierzu nicht einer.
· Untersuchung psychoneuroimmunologischer Zusammenhänge und ihre Modulation durch Fremdstoffe, wie es von Maes (Antwerpen,Maastrich) bereits angedacht worden ist. Private Forschungsprojekte sind diesbezüglich bereits im Gang.
· Validierung neurologischer Verfahren (PET, SPECT) und Festlegung ihres Stellenwerts für die Diagnostik umweltmedizinscher Erkrankungen. Die neuroradiologische Darstellung von Transmitter-Rezeptoren, ihrer Dichte und ihrer Funktion muß in die Forschung einbezogen werden.
· Parallel hierzu bereits Validierung von therapeutischen Konzepten um den Patienten zu Behandlungskonzepten zu verhelfen, die auch im Versicherungs-wesen akzeptiert sind.
· Entwicklung verhaltenstherapeutischer Strategien, um den chronisch erkrankten Umweltpatienten eine bessere Handhabe im Umgang mit ihren Krankheiten zu ermöglichen.
· Untersuchung alternativer Methoden hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, da sich bisher gezeigt hat, daß Patienten mit solchen Behandlungsansätzen mitunter besser zu Recht kommen als mit klassischer alopatischer Therapie.
Handlungsbedarf
19.
Die Kenntnisse um die vorhandenen Grenzwertbestimmungen sind unter akuten bis subakuten Belastungsbedingungen im Umgang mit Einzelstoffen unter Beobachtung kurzer Zeiträume gewonnen worden. Dies wird der Wirklichkeit umweltmedizinischer Krankheiten nicht gerecht. Für diesen Bereich spielen Langzeitexpositionen im Niedrig-dosisbereich die entscheidende Rolle, wobei in der Regel komplexe Gemische vorhanden sind. Weisen schon alle Erwachsenen jüngeren und mittleren Lebensalters einen erheblichen Unterschied im Umgang mit Fremdstoffen auf, kommt bei den Kindern die mangelhaft Entwicklung solcher Systeme im Säuglings- und Kleinkindalter und die besonderen Anforderungen im Wachstumsalter hinzu. Für ältere Menschen verhält sich die Lebenssituation eigentlich umgekehrt zu der in der Medizin akzeptierten. Für viele Schadstoffe ist es Standard, daß ihr Gehalt im menschlichen Organismus mit dem Lebensalter korreliert wachsen kann. Die Fähigkeit mit solchen Belastungen umzugehen nimmt allerdings mit steigendem Lebensalter erheblich ab, so daß eine konstante Abnahme solcher Belastungen im höheren Alter zu fordern wäre. Die Wirklichkeit ist von diesem Sachverhalt weit entfernt.
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Prinzipiell geht es um die Frage, welches Risiko die Einbringung von Fremdmaterialien in den menschlichen Organismus entstehen kann, wenn diese Stoffe über Jahre, oftmals Jahrzehnte verweilen sollen. Die dabei am häufigsten gebrauchten Materialien sind bislang Dentalmetalle. Andere Fremdstoffe sind allerdings in zunehmenden Maße bedeutsam. Die Bewertung von Dentalmetallen erfolgte bislang praktisch ausschließlich auf bisher bekannen bzw. angenommenen Dosis-Wirkungsbeziehungen für den Kurzzeitgebrauch. Eine kürzlich abgeschlossene WHO-Studie hat unter deutsche Führung (Drasch und Mitarbeiter) ein philippinisch, quecksilberexponierten Bergwerks-arbeitern gezeigt, daß die Bestimmung des Metalls im Blut kein signifikante Korrelation zur Schwere der Krankheit zeigte. Diese Aussage wird im Umgang mit Amalgam bereits seit vielen Jahren von zahlreichen Untersuchern einschließlich mir in Deutschland gemacht. Prinzipiell hätte man vergleichbare Resultate bei sorgfälltiger Arbeit bereits aus der Marktredwitz-Studie erwarten können.
Die weiterhin aufrechterhaltene Aussage, daß die Nahrung die wesentliche Quelle des Quecksilbers ist, ist falsch. Sie wird praktisch in allen Argumentationen der Sozialgerichte und der Krankenversicherer benutzt, obwohl im Handbuch für experimentelle Pharmakologie, Sonderband „Toxycologie of metals“ von Gojer und Cherian auf Seite 175 bereits vor Jahren festgestellt wird, daß Amalgam die wesentliche Quelle ist. Die Auswirkungen sind vielfältig und hängen ganz entscheidend von der Leistungsfähigkeit des Glutathionsystems im menschlichen Organismus ab, das sehr variabel angelegt ist. Folgende Mechanismen können festgestellt werden:
· Die Induktion der Freisetzung von Mediatoren aus Mastzellen und ihrer Auswirkung auf die Typ-I-Allergie, die Entwicklung von Pseudoallergien und chronische Entzündung.
· Die systemische Formierung von Neoantigenen und Induktion zellulärer Sensibilsierung.
· Die Entwicklung von Autoimmunität
· Die Möglichkeit der Auslösung maligner Proliferation durch ungehemmtes Klonen sensibilisierter T oder B Zellen.
· Der Einfluß auf die detoxifizierenden Systeme, insbesondere das Glutathion-System.
· Die Induktion der Bildung von Zelladhäsionsmolekülen und ihre Rolle für vaskuläre Erkrankung einschließlich der Hypertonie
· Die Wirkung auf Rezeptormembramen am Beispiel der dopaminergen D2-Rezeptoren der Basalganglien.
· Die Beeinflussung der Durchlässigkeit der Blut-Hirnschranke
Die Nachteile des Gebrauchs von Amalgam sind so komplex und für die Kosten im Gesundheitswesen so verheerend, daß die Vorteile des Gebrauchs dieses Materials (einfacher Handhabe mit guten funktionellen Resultaten, kostengünstige Primärausgaben) diese Nachteile bei weitem nicht aufwiegen. Die dargestellten immunologischen Risiken unterliegen der klassischen Dosis-Wirkungsbeziehung nicht. Entscheidend hierfür sind die individuelle Suszeptibilität aufgrund immunologischer Mechanismen und des Polymorphismus der Detoxifikationssysteme bzw. der Modulation beider Systeme durch exogene Faktoren sowie ein ausreichend langer Gebrauch bei solchen Personen.
21.
Lärm ist subjektiv und objektiv einer der wichtigsten Umweltfaktoren. Ca. 16% der Bevölkerung der BRD sind hiervon betroffen. Will man, wie geplant, der Salutugenese gegenüber der Betreuung bereits Erkrankter ein höheres Gewicht verleihen, gehört es zu den wesentlichen gesundheitspolitischen Entscheidungen, Lärmbelastung in besonders betroffenen Bereichen deutlich zu senken.
22.
Der gegenwärtige Zustand des Gesundheitswesens ist das Resultat bisher gewählter medizinischer, gesundheitspolitischer und politischer Strategien. Das Gesundheitswesen hat die vorliegenden Probleme mit den bisherigen Strategien nicht lösen können. Trotz erheblicher finanzieller und personeller Aufwendungen steigen die Morbiditätsraten für chronische Erkrankungen weiter beständig, was nicht alleine durch die älter werdende Population zu erklären ist. Es ist dringend geboten, daß von politischer Seite ein Vertrauensvorschuß in neue Wege erfolgt und neue Wege neben den bisher gebräuchlichen begangen werden muß. Entgegen allem bisherigen Verständnis erfüllt der größte Teil der gegenwärtig gebräuchlichen Medizin nicht den Anspruch für clinical evidence. Nur die raschere Korrektur überkommener Positionen und die Senkung der Morbiditätsrisiken für chronische Krankheiten durch eine effiziente Prävention können erreichen, daß Fortschritte in der Medizin finanzierbar bleiben und denjenigen, die ihrer bedürfen auch zur Verfügung stehen.
Dr.med.Kurt E.Müller
Schwerrwiesenweg 16
88316 Isny
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