Aus "Der Facharzt", Nr. 35 (7-8 2000):
Arbeitsförderung ohne Konzept für Umweltkranke
Die Leistung der Arbeitsförderung soll vor allen Dingen strukturellen Ausgleich am Arbeitsmarkt schaffen. Laut Gesetzestext soll das beschäftigungspolitische Ziel der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung entsprechen. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass die Arbeitsförderung gesundheitlichen oder gar umweltmedizinischen Anforderungen zu genügen habe.
Gerade in jüngster Zeit wurde bereits für Gesunde eindrucksvoll dokumentiert, wie schlecht die Politik aufgrund unzureichender Prognosen auf die sich entwickelnde Arbeitsmarktsituation vorbereitet ist. Für Patienten, die an Umweltkrankheiten leiden, existiert überhaupt kein Konzept. Entsprechend werden diese Patienten dem allgemeinen Arbeitsmarkt wieder zugeführt, was gewöhnlich die Chronifizierung und Verschlechterung der Erkrankung gewährleistet.
Ärger noch als andere Erkrankte werden Patienten mit Umweltkrankheiten zwischen den einzelnen Zuständigkeiten hin- und hergeschoben. Dadurch haben die Erkrankten besonders viel Umgang mit Administrationen. Das überfordert dieses Klientel häufig so, dass sie sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlen und an diesen Aufgaben dekompensieren. Sie verzichten auf die Wahrnehmung ihnen zustehender sozialer Ansprüche und geraten in die soziale und persönliche Isolation.
Eine adäquate Gestaltung von Heimarbeitsplätzen, eine von den Betroffenen wählbare und der Krankheitssituation gerecht werdende Arbeitsleistung in selbst gewählter Verteilung der Arbeitszeit oder über Datentransfer zur Verfügung gestellte Arbeit sind prinzipiell gute Möglichkeiten der sozialen Integration dieses Personenkreises. Die Schaffung solcher Möglichkeiten ist nicht einmal im Ansatz erkennbar.
Primäre Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung ist es, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Nach Eintritt dieser Ereignisse ist die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und die Geschädigten oder ihre Hinterbliebenen sind durch Geldleistung zu entschädigen.
Die Berufskrankheiten sind in der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), der Berufskrankheitenliste, zusammengefasst. Seit Oktober 1997 ist die neue Fassung der BKV in Kraft. Prinzipiell ist festzustellen, dass die Chance, eine sozial ausgewogenere Regelung zu finden, nur unzureichend genutzt wurde. Als generelle Schwäche des Systems wurde es beibehalten, dass die haftende Institution den Haftungsgrund vor und bei Eintreten einer Berufskrankheit selbst überwacht!
Die geschädigte Person muss neben der versicherten Tätigkeit nachweisen, dass sie der besonderen Einwirkung in einem erheblich höheren Grad als die übrige Bevölkerung tatsächlich ausgesetzt war, dass auch tatsächlich eine Aufnahme erfolgt ist und Schäden verursacht worden sind. Aus diesem Sachverhalt ist leicht zu entnehmen, dass der haftenden Institution an einer Optimierung der Beweislage normalerweise nicht gelegen sein wird.
Es erschwert die Situation der Erkrankten noch, dass die Anerkennung einer Berufskrankheit erst nach Einstellung der angelasteten Tätigkeit erfolgen kann. Alle hieraus sich ergebenden sozialen Risiken trägt der Geschädigte zunächst selbst.
Eine unabhängige ärztliche Untersuchung greift üblicherweise erst dann in den Prozess ein, wenn längst keine Exposition mehr erfolgt oder Arbeitsprozesse so weit geändert sind, dass die primär auslösende Situation kaum mehr untersuchbar ist. In den wenigsten Fällen kann ein Monitoring zu diesem Zeitpunkt noch die Beweislage verbessern.
Die Aufnahme von neuen Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste erfolgt so zögerlich, dass aufgrund dieses Verhaltens das Risiko einer großen Zahl neuer Erkrankungen bereitwillig in Kauf genommen wird (Asbest, Lösemittel). Gab es früher die Möglichkeit, durch § 551 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB V) neue Erkrankungszusammenhänge geltend zu machen, wurde dieser Weg im neuen Gesetzestext ganz wesentlich erschwert. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass der neue Text im § 9 SGB VII Abs. 2 nur das sprachlich festhält, was Grundlage der Rechtsprechung schon in den Jahren zuvor geworden war.
Was neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis ist, bestimmt künftig eine eingesetzte Kommission. Damit ist prinzipiell ausgeschlossen, dass neue Erkenntnisse von Zusammenhängen durch Einzelfallentscheidungen rasch in die Rechtsprechung einfließen können. Die generelle Geeignetheit der Anerkennung des Erkrankungszusammenhangs muss also in Zukunft vor der Entscheidung im Einzelfall stehen. Damit ist der ursprüngliche Gedanke des Gesetzestextes prinzipiell blockiert und nicht mehr umsetzbar geworden.
Die strukturelle Abschottung durch die gesetzliche Regelung der Berufskrankheitenverordnung erlaubt es einem relativ kleinen Kreis Beteiligter zu definieren, was für den Gesetzestext als relevant zu erachten ist und was nicht. Die in der Regel aus den Erkenntnissen der Arbeitsmedizin übernommenen Beurteilungen medizinischer Sachverhalte haben bis zum heutigen Tage unter anderem weder das Risiko der Exposition gegenüber Schadstoffgemischen noch den Polymorphismus der Detoxifikationssysteme im Umgang mit ihnen adäquat berücksichtigt. Wie in keinem Teilbereich der Medizin sonst haben die Unfallversicherungsträger sichergestellt, dass die von ihnen zitierten Meinungsträger auch Gutachter in den Rechtsstreitigkeiten sind.
http://www.facharzt.de/content/red.otx/172,601,0.html?sID=86f72c8df18ee045958be025826f0019