„bio-psychosozial" der Schein der Ganzheitlichkeit
medico Rundschreiben 02/2012
"Biomedizin und strukturelle Gewalt
Wie sich das ökonomisierte Menschenbild in einem Krankheitsverständnis spiegelt.......
Das „neue Menschenbild“, der homo oeconomicus, passt hervorragend zu einem neuen biomedizinischen, neurobiologischen oder bio-psychosozialen Krankheitsverständnis; das Motto lautet: „Das Gehirn trainieren, um sich selbst besser regulieren zu können” (Vanessa Lux 2010). Im biomedizinischen Krankheitsbild dominieren Medikalisierung, Determination und Individualisierung.
Populär ist heute ein Konzept von Krankheit, das auf einem „bio-psychosozialen” Verständnis beruht: das sogenannte „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“. Oberflächlich betrachtet enthält es alle Dimensionen eines integrierten Menschenbildes, nur wird bei näherem Hinsehen die Gesellschaftlichkeit preisgegeben. Trauma und strukturelle Gewalt werden auf Stress verkürzt; Trauma ist hier Stress von einem solchen Ausmaß, dass ihn die Einzelnen (hirnphysiologisch) nicht mehr bewältigen können. In der Kritischen Psychologie werden die Implikationen dieses Krankheitsverständnisses und Menschenbildes herausgearbeitet. Die Konjunktur der Neuropsychologie, so die Psychologin Vanessa Lux, lässt sich daran sehen, dass die Forschung boomt und die Presse deren Ergebnisse popularisiert: „Wie Schmetterlinge schwirren die bunten Bilder von aufgeschnittenen Gehirnen durch die mediale Landschaft“. Sie geben vor: Wir können die „Gefühle im Hirn sehen“. Dabei reduziere die Neuropsychologie das Psychische auf physiologisch funktionale Korrelate und sei die Forschung darauf angewiesen kurzfristige Zustandsänderungen zu messen. Entsprechend boomen auch Therapien, die diese schnellen und kurzfristigen Veränderungen herbeiführen können. Dass diese Therapieangebote in der internationalen Hilfe, wie Usche Merk hier berichtete, ebenfalls zum Zuge kommen, kann so nicht verwundern.
Dieses Krankheitsverständnis basiert auf mehreren Reduktionen im Menschen- und Gesellschaftsbild. Es reduziert die Psyche auf messbare Vorgänge, das subjektive Erleben auf Stress und gesellschaftliche Machtverhältnisse als Verursacher strukturelle Gewalt auf einen Vorgang individueller Stressbewältigung. Diese Reduktion dieser strukturellen Gewaltverhältnisse auf einen biologischen Stress-Vorgang, die Fokussierung auf ein Selbst-Management statt auf die Analyse der Bedingungen, unter denen Gewalt entsteht, sind die extrem problematischen Implikationen eines bio-psychosozialen Krankheitsmodells. Das Anliegen einer umfassenden gesellschaftlichen und zugleich individuellen Perspektive wird damit aufgegeben, der Schein der Ganzheitlichkeit bleibt jedoch gewahrt. Vielleicht ist diese Perspektive auch deshalb in der Sozialen Arbeit so populär. Die Konjunktur des Biomedizinischen in seinem aktuellen Ausdruck, dem sogenannten „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“, erschwert eine psychosoziale Perspektive grundlegend, die die strukturelle Gewalt als zentrales Moment von Trauma erfasst....."
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